Bericht aus dem Journal von Amnesty International von 10/11 2018

AMNESTY JOURNAL NICARAGUA 25. SEPTEMBER 2018

AUFSTAND DER KUGELSCHREIBER

Holzkreuze mit Schärpen stehen auf einer Wiese

Den Opfern gedenken. Managua, August 2018.

In Nicaragua setzt die Opposition gegen Daniel Ortega ­weiter auf eine friedliche Lösung des Konflikts.

Von Wolf-Dieter Vogel, Managua

Daniel Ortega lässt keinen Zweifel daran, was er von seinen ­Gegnern hält. Iskra Malespín etwa ist für den nicaraguanischen Präsidenten eine Terroristin und Putschistin. Die Studentin ist deshalb im Sommer abgetaucht. Nur einmal hat sie sich bei ihren Eltern blicken lassen, und just in diesem Moment kamen die Häscher des Regimes. „Zwei vermummte Typen sind in unser Haus eingedrungen und haben mich gesucht“, erzählt sie. Die junge Frau konnte rechtzeitig flüchten. Ihre Geschwister haben daraufhin das Land verlassen. Für Malespín kommt das nicht infrage. Soll sie etwa ihre Freundinnen und Freunde alleinlassen? „Und wer sorgt dafür, dass die, die unsere Kommilitonen getötet haben, zur Verantwortung gezogen werden?“

Mindestens 300 Menschen sind gestorben und etwa 30.000 ins Ausland geflüchtet, seit Polizisten und paramilitärische Gruppen in Nicaragua gewaltsam gegen Oppositionelle vorgehen. Staatschef Ortega von der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) ordnete die ersten Einsätze an, nachdem Studenten und Rentner im April gegen eine Reform demonstriert hatten, die Rentenkürzungen und höhere Beitragssätze für die Altersvers­orgung vorsah. Polizeibeamte, Mitglieder der sandinistischen Jugendorganisation Juventud Sandinista sowie vom Staat bezahlte Paramilitärs griffen die Demonstranten an, Scharfschützen schossen auf die Protestierenden.

Ortega nahm die Reform zwar wieder zurück, doch die Proteste hatten sich längst ausgeweitet. Sie richteten sich grundsätzlich gegen das Regime des seit zwölf Jahren autoritär herrschenden Staatschefs. Studenten besetzten Universitäten; Umweltschützer und Indigene protestierten gegen die Zerstörung der Wälder. Feministinnen, Unternehmer und Bauernorganisationen schlossen sich an. Sie alle forderten Neuwahlen, um den Präsidenten abzusetzen.

Innerhalb kurzer Zeit entstanden im ganzen Land Barrikaden, fast drei Viertel der Verkehrsadern waren blockiert. Immer wieder griffen maskierte Paramilitärs und Polizisten die Oppositionellen an. Ende Juli ging die Regierung dann mit einem Großaufgebot gegen die Straßensperren vor. Wieder kam es zu blutigen Auseinandersetzungen. Besetzte Universitäten wurden geräumt, zahlreiche Aktivisten verhaftet.

Seither nehmen die Sicherheitskräfte gezielt Personen fest, die sie als Rädelsführer betrachten: studentische Aktivisten ebenso wie Mediziner, die schon während der Proteste entlassen wurden, weil sie verletzte Demonstranten behandelt hatten. „Kein Tag vergeht, an dem nicht vermummte Zivilisten in Wohnungen eindringen und vermeintlich Verdächtige verschleppen“, erklärt der Rechtsanwalt Francisco Ortega. Die meisten Festgenommenen tauchten später in einem Gefängnis wieder auf, einige gelten als verschwunden.

Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen warten etwa 300 Menschen auf ihre Anklage, 85 Personen werden terroristische Aktivitäten vorgeworfen. Viele ­säßen illegal in Haft, kritisiert der Jurist, der neben den Inhaftierten acht Familien vertritt, deren Söhne getötet wurden. In keinem der Fälle hat er eine Antwort der ­Behörden erhalten. „Hier kümmert sich niemand um das Recht“, sagt er.

Auch eine Arbeitsgruppe des UN-Menschenrechtskommissariats, die eine Wahrheitskommission unterstützen sollte, erhob schwere Vorwürfe. In einem im August veröffentlichten ­Bericht ist von gezielten Tötungen, Folterungen, sexualisierter Gewalt und dem Verschwindenlassen von Menschen die Rede. Die paramilitärischen Banden müssten sofort aufgelöst und die Kriminalisierung der Oppositionellen, insbesondere unter dem Vorwurf des Terrorismus, beendet werden. „Die Gewalt und die Repression“, resümierte der damalige UN-Menschenrechtskommissar Zeid Ra’ad al Hussein, „sind das Ergebnis einer jahrelangen systematischen Erosion der Menschenrechte und verweisen auf die allgemeine Zerbrechlichkeit der Institutionen und des Rechtsstaats.“

Zwei Tage nach der Veröffentlichung des Berichts verwies der Präsident die UN-Arbeitsgruppe des Landes. Nicaragua habe die Delegation nicht eingeladen, um die Menschenrechte zu beobachten, hieß es in einer Erklärung. Kurz darauf bezeichnete Ortega die UN als „Werkzeug der Mächtigen“. Hinter den internationalen Menschenrechtsorganisationen stünden die USA, die das Land zerstören wollten. „Hier wird niemand wegen seiner Ideen oder seiner politischen Aktivitäten verhaftet“, behauptete er.

Ortega saß selbst sieben Jahre aus politischen Gründen im Gefängnis. Aber das ist lange her. 1974 erzwang ein FSLN-Kommando seine Freilassung, fünf Jahre später stürzten die Sandinisten den Diktator Anastasio Somoza. Danach führte Ortega jahrelang das Land, zunächst in einer Junta, später als Präsident, bis seine Partei 1990 abgewählt wurde. 2006 siegte er erneut bei den Wahlen, doch damals hatten ihm viele seiner ehemaligen Mitstreiter längst den Rücken gekehrt, weil sie den Politiker für korrupt und ­diktatorisch hielten.

So zum Beispiel Carlos Brenes, der einst als Guerillero an der Seite Ortegas kämpfte. Er verließ die Partei nach der Wahlniederlage 1990, weil sich damals hohe Parteikader Hotels, Fincas und zahlreiche andere staatliche Güter sicherten. Im August ließ Ortega den 63-Jährigen verhaften. Der Vorwurf: Terrorismus.

Ortega und seine Frau Rosario Murillo haben indes erhebliche Reichtümer angehäuft, die Familie kontrolliert zudem die Institutionen des Landes. Den Ortegas-Murillos gehören viele Fernseh- und Radiostationen, ihre Kinder verdienen an internationalen Geschäften, etwa mit Venezuela und China. Während der Staatschef die Medien scheut, ist Murillo dort fast täglich präsent. Mit esoterischem Pathos prangert die Vizepräsidentin und Regierungssprecherin die „blutrünstigen Vampire“, sprich Studenten, an und beschwört Gottes Wille gegen die „Feinde des Volkes“.

Nein, mit den alten revolutionären Zielen habe das alles nichts mehr zu tun, betont dagegen Anwalt Francisco Ortega. Einst Guerillero der FSLN bezeichnet er sich weiterhin als Sandinist. „Aber nicht als Orteguist“, stellt er klar. Das trifft auf viele zu, die wie er im Kampf gegen Somoza und in den 1980er-Jahren gegen die von den USA unterstützten Contras ihr Leben riskiert haben.

Heute beschuldigt Präsident Ortega die Oppositionellen, ­einen bewaffneten Aufstand angezettelt zu haben. Die Regimekritiker weisen diesen Vorwurf von sich. „Am Anfang haben wir uns mit unseren Kugelschreibern verteidigt, später mit selbst­gebauten Geschossen, die niemanden töten“, sagt die Studentin Malespín. Sie hofft auf eine friedliche Lösung des Konflikts. Dazu müsse der Dialog wieder aufgenommen werden, den das oppositionelle Bündnis Alianza Cívica im Mai mit der Regierung geführt hat und der seither ausgesetzt ist.

Der Generalvikar von Managua, Carlos José Avilés, der an der Moderation des Dialogs beteiligt war, gibt dem Regime die Schuld dafür, dass die Gespräche nicht weitergehen: „Die Regierung will nicht über die anstehenden Themen sprechen: über Demokratisierung, Erneuerung der Institutionen und vorgezogene Wahlen.“ Da führe kein Weg dran vorbei, ergänzt Anwalt Ortega. Er wurde dreimal verletzt, als er mit der FSLN kämpfte. Heute trägt er deshalb eine Beinprothese. Auch er hofft darauf, dass der Präsident an den Verhandlungstisch zurückkehrt. Es müsse eine friedliche Lösung geben, sagt er und betont: „Wir haben schon zu viele junge Menschen in Kriegen verloren.“